Nelson Mandela über die südafrikanische Philosophie Ubuntu:
„Ein Reisender in einem Land würde in einem Dorf anhalten und müsste nicht nach Essen oder Wasser fragen. Sobald er anhält, geben ihm die Menschen zu essen und leisten ihm Gesellschaft. Das ist ein Aspekt von Ubuntu. Ubuntu heißt nicht, dass man sich nicht selbst bereichern darf. Die Frage ist: Wirst du dich bereichern, um auch die Menschen um dich herum dazu zu befähigen, sich zu verbessern?“
Der scharfe Geruch von brennendem Müll und Abgasen weht durch das offene Fenster ins Minibustaxi hinein. Das kleine Mädchen neben mir stupst mich an. Als ich hinüber schaue, wackelt es mit den Augenbrauen. „She want’s to know if you can do that“, fragt seine Mama auf deren Schoß es sitzt. Grinsend wackle ich zuerst mit der einen, dann mit der anderen Augenbraue, dann mit beiden. Begeisterte Kinderaugen. Von da an werde ich ca. aller 10 Sekunden angestupst, um nochmal zu zeigen, dass ich das auch wirklich kann. „Short left!“ Fast verpasse ich mein Ziel. Short left, das ruft man dem Fahrer zu, wenn man an der nächsten links abzweigenden Straße rausgelassen werden möchte. Es gibt natürlich auch short right. Und before/after robot – vor/nach der Ampel. Ich öffne die klapprige Schiebetür und steige aus. Endlich! Nachdem ich mich beim ersten Anlauf gründlich verfahren habe, stehe ich nun nach wenigen Schritten vor einem großen grauen Klotz. Dem Apartheid Museum. Endlich! Hochgelobt wird die hiesige Ausstellung im Lonely Planet. Und nachdem wir in der Schule fast nichts über dieses Wort – Apartheid – und dessen Bedeutung gelernt haben, bin ich umso gespannter, was mich hier erwartet. Natürlich habe ich vor meiner Reise recherchiert, Dokus geschaut. Doch auf das, was mir hier begegnet konnte mich nichts vorbereiten.
Während ich durch die Gänge streife, lese ich die geschichtliche Annäherung an das Thema auf den großen schwarzen Postern. Ich will kein Wort verpassen und sauge jede Information auf, die ich bekommen kann. Die Leute, die mit mir das Museum betreten haben sind schon längst über alle Berge. Schließlich geht der Text über in große bebilderte Tafeln und Schaukästen. Und hier stehen die Leute dicht gedrängt, um zu schauen. Das Leben der Schwarzen zu Zeiten der Apartheid. Ab dem Alter von 8 Jahren musste jeder Schwarze, Farbige und Inder einen Pass bei sich tragen, in dem seine Identität bestätigt wurde. Ein schlacksiger Junge ist auf dem Passfoto zu sehen. Neben dem ausgestellten Pass liegt aufgefaltet ein vergilbtes Papier, auf das mit verschlungener Schrift geschrieben wurde: My boy is allowed to go to town today between 6 and 10pm.
Darunter der Name des jungen Mannes, das Datum und die Unterschrift des Schreibers. Ich entziffere einen deutsch oder holländisch klingenden Namen. Es handelt sich um eine Erlaubnis, die generelle Ausgangssperre für Nicht-Weise am Abend ausnahmsweise auszusetzen. So ein Papier musste vom Arbeitgeber der jeweiligen Person ausgestellt werden.
Bilder von verrußten Gesichtern in Minenschächten. Die meisten Männer hatten in den Goldminen unter Johannesburg zu arbeiten. Nach der Arbeit musste man sich nackt ausziehen und von einem Vorgesetzten auf heimlich verstecktes Gold absuchen lassen. Gearbeitet wurde von früh morgens bis nachts untertage. Ich werde schon vom Anblick des engen Schachtes klaustrophobisch. Die Gesichtsausdrücke der abgebildeten Männer liegen irgendwo zwischen Trotz, Verzweiflung und purer Angst. Keine Seltenheit, dass eine der provisorisch angelegten Gruben zusammenbrach und Hunderte von Arbeitern für immer verschluckte.
Die Frauen daheim, mit oftmals etlichen Kindern. In der zweiten Hälfte des 20.Jh. ereilte eine Welle von Krankheiten die Stadt. Sowohl Schwarze als auch Weiße waren betroffen. Diese Umstände nutzte die britische Regierung als Ausrede dafür, alle Nicht-Weißen aus dem Zentrum der Stadt zu entfernen, da sie der Grund für die Ausbreitung der Krankheit wären. Ganze Wohnsiedlungen nicht-weißer Bevölkerungsgruppen wurden seitens der Regierung zerstört, um eine „Umsiedlung“ zu erzwingen. So entstanden die Townships am Rande und rund um Johannesburg. Soweto ist das größte davon.
Während die Männer in den Minen schufteten, betraten ihre Frauen erstmals das brachliegende Land, das ihr neues Zuhause werden sollte. Leere Hände. Chaos. Jede steckte sich ein paar Quadratmeder für ihr neues Heim ab, viel Platz war nicht. Tausende mussten hier unterkommen. Mit Stöcken und Planen wurden die ersten Shacks (Hütten) errichtet. Manche hatten Geschick und konnten ihre Hütte so errichten, dass das Innere vom Regen verschont blieb. Andere nicht. Nach vielen Protesten versprach die Regierung den Bewohnern der Townships den Bau eines kleinen Hauses für jede Familie. Viele Familien warten noch heute auf ihr Haus, dass ihnen immer noch alljährlich im Wahlkampf der Parteien zugesagt wird.
Zwei Welten im Alltag. Unterschiedliche Häusereingänge für Schwarze und Weise, unterschiedliche Sitzplätze in Bus und Bahn. Banken nur für Weiße. Bestimmte Strandabschnitte an der Küste nur für Weiße. Ein Plakat besagt: Hier nur Weiße. Keine Hunde. Keine Schwarzen.
Kein Wahlrecht für Schwarze, keine Möglichkeiten, sich eine selbstständige Erwerbstätigkeit aufzubauen. Immer nur Abhängigkeit von den Weißen. Die Gesetzgebung des Bantu Education Act, sah nicht nur eine getrennte Schulausbildung weißer und nichtweißer Schüler vor, sondern hielt auch unterschiedliche Lehrpläne bereit. So war die Ausbildung der schwarzen Kinder gewollt sehr minderwertig. Vielleicht, weil es der Regierung gefährlich erschien, die unterdrückte schwarze Mehrheit des Landes mit Wissen auszustatten. Man konnte das Risiko einer quantitativen UND intellektuellen Überlegenheit der schwarzen Bevölkerung nicht eingehen. Im abgebildeten Klassenraum hockt die Lehrerin zwischen ca. 50-60 Kindern auf dem Fußboden. Keine Tische und Bänke. Nachdem die Schule bei der Regierung um 60 Schreibhefte gebeten hatte, bekam sie lediglich 2.
Viele junge Männer, die nicht in den Minen arbeiten konnten oder wollten, wandten sich der Kriminalität zu. War es doch um einiges ertragreicher täglich ein paar reiche Weiße auszurauben als sich auf ewig den erbärmlichen Arbeitsbedingungen einer Mine zu unterwerfen. Diese Ansicht wurde sicherlich noch gefördert vom Rassismus und der großen Ungerechtigkeit, die den Schwarzen zuteil wurde. Ein Foto zeigt einen kräftigen Weißen in Anzug und Hut, der mit seinem Gehstock einen bereits am Boden liegenden Junge zu Tode prügelt.
Während ich durch die Gänge laufe und das Gesehene auf mich wirken lasse, durchlebe ich unzählige Emotionen. Wut über die Ungerechtigkeit gegenüber Menschen, die nichts anderes verbrochen haben als eine andere Hautfarbe zu besitzen. Über die Arroganz und Dreistigkeit der Europäer, die sich ein ganzes Land wie selbstverständlich zu eigen gemacht haben. Trauer, beim Anblick der verheerenden Armut der nichtweißen Bevölkerung. Mitgefühl für die Familien, die ihre Kinder verloren haben durch Hunger oder Gewalt. Bewunderung für die jugendlichen Protestanten, die für eine bessere Schulbildung und gegen Afrikaans als Unterrichtssprache auf die Straße gegangen sind. Und pures Erstaunen, dass mich ganz zum Schluss der langen Ausstellung überfällt: Als 1994 die Apartheid endlich abgeschafft und Nelson Mandela der neue Präsident Südafrikas wird, finden keine Racheakte gegenüber der abgesetzten britischen Regierung statt. Keine Verurteilungen à la Nürnbeger Kriegsverbrecher Prozesse. Stattdessen wird die sogenannte Truth and Reconciliation Commission (TRC), auf deutsch Wahrheits- und Versöhnungskommission einberufen. Unter dem Vorsitz des Erzbischofs Desmond Tutu wurden über 7.000 Menschen aller Volksgruppen angehört, die ihre Verbrechen zu Zeiten der Apartheid gestehen, und somit zur Aufklärung abertausender Morde, Folter, Attentate und anderer Gewaltakte und politischer Straftaten beitragen sollten. Den Tätern wurde bei einem Geständnis all ihrer Vergehen die Amnestie zugesagt.
An der TRC ist vieles zu kritisieren. Beispielsweise die Tatsache, dass viele Beamte und Polizisten nach dem Geständnis der grauenhaftesten Verbrechen nicht nur einen Freispruch erhielten sondern auch vor Strafverfolgung und Schadensersatzklagen geschützt waren und ohne weiteres wieder ihre alten Positionen einnehmen konnten. Währenddessen verließen die Angehörigen vieler Opfer traumatisiert den Saal, ohne, dass sie auch nur ein Wort gesprochen hatten.
Trotz all dem bewundere ich den Mut und die Großherzigkeit eines Mannes. Selbst 27 Jahre lang von der weißen Regierung gefangen gehalten, verachtet und gefoltert. Und danach immer noch dazu im Stande, den Menschen, die sich auf grausamste Weise an ihm und seinem Land vergangen hatten, die Hand zu reichen: Nelson Mandela.
Es gibt ein Wort, dass diese Charaktereigenschaft beschreibt, die viele Südafrikaner (aller Hautfarben) besitzen, die ich bereits kennenlernen durfte: Ubuntu. Eine Person ist eine Person durch andere Menschen. Menschlichkeit. Mitgefühl.Vergebung. Für die anderen. Und sich selbst. Für den inneren Frieden und den zwischenmenschlichen.
Wenn ich durch Joburgs straßen laufe, sehe ich noch immer viele Überreste der Apartheid. Seien es die Namen britischer Politiker auf den Straßenschildern, die Wohngebiete, in denen auch heute fast ausschließlich Schwarze ODER Weiße ODER Inder ODER Coloureds leben. Die Menschen, die mir von der ungleichen Entlohnung und den ungerechten Bildungsmöglichkeiten für Nicht-Weiße berichten. Die immer noch tief sitzenden Vorurteile.
Vielleicht ist es naiv. Doch ich glaube fest daran, dass (nicht nur) Südafrika stark genug ist, um die furchtbaren Geschehen der Vergangenheit aufzuarbeiten. Sich langsam einander anzunähern, übereinander und voneinander zu lernen. Und ganz im Sinne der südafrikanischen Philosophie Ubuntu bei der Frage wer welchen Job bekommt, wer wen heiratet, wer wo lebt irgendwann nicht mehr auf die Hautfarbe, die Religion oder das Geschlecht eines Menschen zu schauen.